Erklärung Antonia
Es ist ja leider nicht so, dass der Tod meines Bruders Ante ein Einzelfall ist, eine bedauerliche Fehlleistung, die hier den Polizisten unterlaufen wäre. Allein in Mannheim hat es in den letzten anderthalb Jahren drei Todesfälle durch Polizeieinsatz gegeben. Ich kann nicht erkennen, dass hier irgendetwas gegen diese Spur des Todes durch Stadt oder Land unternommen würde.
Die Polizei ist nicht irgendwer, nicht irgendein Bürger, der sich falsch verhalten hätte. Sie sind Uniformträger, sie sind bewaffnet, sie stellen die Staatsgewalt dar. Sie haben Macht. Wenn sie die Macht missbrauchen, dann ist das eine Gefahr für andere Menschen. Diese Gefahr bleibt bestehen, wenn ein Signal ausgesandt wird, das bedeutet, jemand hat jemanden zu Tode gebracht, trägt eine Uniform, und kommt davon! Ein verheerendes Signal. Sollen wir uns als Bürgerinnen und Bürger vor der Polizei fürchten oder ist sie von uns als Bürgerinnen und Bürger beauftragt!?
Es ist in den Videos zu sehen, dass zahlreiche Passantinnen und Passanten am 2. Mai 2022 erkannten, dass etwas Schlimmes geschah; dass die Polizei etwas tat, was nicht sein durfte. Es wurde vor Gericht davon berichtet, dass Umstehende empört waren und riefen, die beiden Polizisten sollten aufhören. Durch ihre zahlreichen Zeugnisse konnte es überhaupt zur Anklage kommen. Jedes Kind weiß, dass man jemanden, der schon zu Boden gegangen ist, nicht weiter niederkämpfen darf. Dass da Schluss ist. Das weiß man, ohne zu wissen, ob eine Straftat vorhergegangen ist oder nicht. Laut Statistiken zeigt sich, dass psychisch erkrankte Menschen überwiegend keine deliquenten Verhaltensweisen zeigen. Es ist so wichtig zu hören, dass da die umstehenden Menschen Zivilcourage aufbrachten. Mein Bruder hatte keine Straftat begangen. Ich zitiere aus einer Zeugenaussage: „Lasst den Mann los, er hat doch nichts getan“. Und: „Es reicht. Es reicht. Hört auf.“ Mir kommt auch der Gedanke an George Floyd. Als die umstehenden Menschen rufen „Hört auf“, ist mein Bruder bereits auf dem Boden liegend fixiert: U.a. durch minutenlanges Knien auf den am Boden Liegenden, dazu die Faustschläge, das Blut.
Mein Bruder war ein Deutscher, geboren in Heidelberg, und ein kroatischer Bürger, und ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung. Und obendrein – arm. Ein armer Bürger. Ich frage mich, wieviel wert ist welches Menschenleben und gibt es hier unterschiedliche Standards? Wer stirbt am meisten? Und wie kommt es, dass Personen, wenn sie im Rahmen ihrer psychischen Erkrankung durch medizinisches Personal fixiert werden mussten, nicht sterben – weder an „Vorerkrankungen“ noch an etwaiger Gewalttätigkeit des Personals.
Es ist sehr bedauerlich, dass die Polizei nicht auf die umstehenden Menschen hörte. Dann wäre mein Bruder noch am Leben, und wir säßen jetzt nicht hier bei Gericht als Angehörige. Wir sind traurig, wir sind wütend, verloren, alleingelassen und wir setzen uns hier einem Prozess aus, Woche um Woche – ein sehr belastendes Verfahren, uns belastet es erneut. Warum tun wir uns das an? Weil wir uns als Familie erhoffen, dass es eine Gerechtigkeit geben kann, eine Strafe für diejenigen, die uns meinen Bruder genommen haben. Wir erwarten eine angemessene Verurteilung wegen einer sinnlosen abscheulichen Tat.
Ich habe diese Hoffnung auch, weil ich den Sinn eines Strafverfahrens auch darin sehe, dass es um diejenigen gehen muss, die geschädigt wurden. Geht es um uns? Geht es darum, dass ich seit dieser Tat mit Panikattacken zu kämpfen habe, dass ich unter Schlaflosigkeit leide, dass ich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelte? Uns fehlt mein Bruder. Und ich habe mittlerweile Angst, selbst in eine Krise zu geraten, die dann dazu führen könnte, dass ich mit der Polizei zu tun bekommen könnte. Ich kann unter gar keinen Umständen mehr mit der Polizei zu tun haben, obwohl ich das in meinem Beruf als Sozialarbeiterin tun müsste. Ich hatte mich besonders mit der Betreuung psychisch erkrankter Menschen beschäftigt. Sie können sich die Krankheit nicht aussuchen und die Reduzierung einer Strafe wegen Tötung eines psychisch kranken Menschen faktisch auf einen minimalen Symbolgehalt – de facto Straflosigkeit bei einer solchen Tat, das ist es, was Angst macht. Es wäre ein fatales Signal.
Ich habe mich mit Opfern und Angehörigen von Polizeigewalt vernetzt. Es gibt viele.
Ich frage mich, ob die Tatsache, dass es sich bei den mutmaßlichen Tätern um Polizisten handelt, zu einem Bonus in den Augen der Staatsanwaltschaft führt? Darf das sein? Dass jemand anders beurteilt wird, weil er ein Amtsträger ist!? Das ist doch umso wichtiger zu verdeutlichen, dass ein Amtsträger keinen psychisch kranken Menschen so behandeln darf. Die Polizisten wussten vor dem Einsatz davon, dass es sich um einen Schutzbefohlenen handelte. Da wäre ja besondere Umsicht angebracht gewesen. Dieser Polizeieinsatz hätte auch einen psychisch gesunden Menschen in Todesangst gestürzt. Was erst hat dieser überfallartige Einsatz für meinen Bruder bedeutet! Mein Bruder ist in dieser Verhandlung als Mensch gar nicht vorgekommen. Müssen denn jetzt alle Familien, in denen sich ein psychisch erkrankter Angehöriger befindet, Angst haben, dass so etwas auch ihren Familienmitgliedern passieren kann?! Sie sind es doch, die von Staats wegen in besonderer Weise geschützt gehören.
Wir waren eine Familie, eine richtige Familie. Wir kamen an den Wochenenden zusammen, meine Mutter kochte für alle, wir haben miteinander gelacht und waren fröhlich. Wir lachen nicht mehr. Wir sind traurig. Meine Mutter hat keine Kraft mehr. Sie ist nicht mehr dieselbe.
Ich hatte eine neue Stelle als Heimleitung für stationär betreute Menschen mit psychischen Erkrankungen angenommen. Ich bin Sozialpädagogin und ausgebildete Familientherapeutin. Mein Bruder war stolz auf mich. Jetzt habe ich keine Lebensfreude mehr, ich konnte die neue Stelle nicht mehr bewältigen, kaum noch meinen Alltag. Ich habe Mühe aufzustehen. Jetzt mache ich die Spaziergänge mit dem Hund, den ich für meinen Bruder kaufte. Er sollte sein Gefährte sein. Keine fünf Monate konnte er den Hund erleben. Keine Wochenenden mehr bei meiner Mutter, mein Bruder ruft nicht mehr an. Wir vermissen ihn. Ich vermisse ihn. Die Bilder, wie er zu Tode gebracht wurde, verfolgen mich.
Sollen wir in diesem Verfahren nicht auch des Opfers gedenken, uns vergewissern, wer er war, ist das nicht selbstverständlich? Mein Bruder war ein lieber Mensch, dem jede Art von Gewalt fern lag. Das sagen alle über ihn, seine Kollegen, seine Freunde. Und er war sehr sozial, wollte immer etwas für andere tun.
Nachdem er als junger Erwachsener erkrankte, hat er 25 Jahre lang selbständig trotz und mit seiner Krankheit leben können. Unbegleitet, er war stellvertretender Sprecher der Beschäftigten der Arbeitstherapeutischen Werkstätte Mannheims. Er wusste auch um seine Rechte Bescheid, er glaubte an den Rechtsstaat: Die letzten Worte, die er in seinem Leben spricht – wir sehen das in einem Video – sind: „Ich bin Ante Paponja“. „Richter“, „Ich will einen Richter“.
Nicht nur das Leben meines Bruders wurde ausgelöscht. Niemals ist nur das unmittelbare Opfer der Betroffene, wir als Familie sind betroffen. Ich bin seitdem so sehr geschädigt, meine Seele zerstört. Ich werde selbst in die Sozialsysteme fallen, keine Aussicht, wann ich meinen Beruf wieder aufnehmen könnte – Kümmert das jemanden? – Es wurde dagegen sehr viel darüber gesprochen, wie die weitere wirtschaftliche Existenz der Angeklagten aussehen könnte.
Mir ist außerdem eine Merkwürdigkeit aufgefallen. Polizeipräsident Kollmer erklärte nach dem Vorfall, keine Bezugskürzung vorzunehmen, um die Angeklagten vor finanziellen Einbußen zu bewahren. Ich beziehe mich auf eine Erklärung vor dem Ausschuss des Innern Baden-Württemberg vom 21.9.2022. Nun erfahre ich, dass die Bezüge des einen Angeklagten jetzt aber um 50% reduziert sind, und damit gehen die Kosten für die zusätzlich eingeholten medizinischen Gutachten zu Lasten der Staatskasse. Da gibt es doch eine sehr besondere Fürsorge für die eigenen Kollegen. Oder irre ich mich da?
Im bereits erwähnten Ausschuss des Inneren in Baden-Württemberg erklärt der Zuständige ausdrücklich, die Polizei sei insbesondere darin geschult, „Lagebedingten Erstickungstod“ zu vermeiden. Auf dieser Sitzung stand der Fall meines Bruders auf der Tagesordnung. Ich zitiere: „Ein in der Aus- und Fortbildung sowie im Einsatztraining wesentliches Element ist hierbei selbstverständlich auch die Sensibilisierung sowie das Training zur Vermeidung eines lagebedingten Erstickungstodes, das in Baden-Württemberg bereits seit den 1990er Jahren implementiert ist.“ Weitere Ausführung hierzu: „Die Sensibilität bei den Kollegen, bei unmittelbaren Zwangsmaßnahmen auf die Gefahr des lagebedingten Erstickungstods zu achten, darauf zu achten, dass die Atemwege frei bleiben, das ist für uns oberste Prämisse, wenn die Kollegen in den Einsatz gehen.“
Ich wiederhole: Ohne diesen Polizeieinsatz wäre mein Bruder noch am Leben. Die von der Verteidigung eingebrachten Gutachten zum Gutachten der Rechtsmedizin Heidelberg sollen die Kernaussage „Tod durch Fremdeinwirkung“ aushebeln und dem Opfer selbst die Todesursache zuschreiben. Bei der Obduktion durch das rechtsmedizinische Institut waren diese Gutachter nicht dabei. Jetzt Vorerkrankungen als mögliche Todesursache ins Feld zu führen, das ist nicht nur unzutreffend, sondern auch beschämend und soll die Tat banalisieren. Eine nachträgliche Verhöhnung des Opfers. Die Todesursache wird dem Geschädigten selbst zugeschrieben. Das ist eine ungeheuerliche Täter-Opfer-Umkehr. Es ist doch der Staat selbst, der dafür verantwortlich ist, dass eine Gewalttat n i c h t geschieht und dass die Bürgerinnen und Bürger geschützt sind. Wenn der Staat das nicht gewährleistet, dann liegt die Verantwortung bei ihm. Das gilt für jede Tat, in der ein Bürger zu Schaden kommt und zum Beispiel das Opferentschädigungsgesetz trägt dem Rechnung. Im Fall meines Bruders wird die Tat sogar durch Vertreter des Staates verursacht, und dann soll dafür Verantwortung in geringerem Maße gelten!? Aufgrund welcher höheren Ziele soll hier polizeiliches Handeln gedeckt werden? Damit kann ich mich nicht einverstanden erklären.
Ohne diese durch nichts, durch absolut gar nichts zu rechtfertigende Gewalttätigkeit der Polizisten wäre mein Bruder noch unter uns. Bitte schützen Sie uns vor solchen gewalttätigen Amtsträgern. Laut Zeugenaussagen sagt der eine mutmaßliche Täter: „Wenn du keine Ruhe gibst, gibt` s noch ein paar.“ „Weit wird er nicht kommen“, eine andere Polizistenaussage. In einem Video ist zu sehen, wie der Polizist nach dem Schlagen grinst. Solche Polizisten sind eine Zumutung für uns, für alle Bürgerinnen und Bürger. Müsste es nicht auch im Interesse von Polizei und Justiz sein, hier höchstmögliche Unabhängigkeit zu praktizieren? Deutschland hat schon lange ein Defizit, was die Fehlerkultur innerhalb der Polizei betrifft und hat es bislang versäumt, unabhängige Beschwerde- und Meldestellen einzurichten. Im Fall meines Bruders hat sich die Tat durch die vielen aufmerksamen Zeugnisse, Videos und Zeugen nicht mehr vertuschen lassen. Jetzt liegt es an der Justiz, diese Aufmerksamkeit entsprechend zu würdigen. Aus einer Studie der Universität Bochum zu "Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte" geht hervor, dass die Staatsanwaltschaften jährlich mehr als 2.000 Strafverfahren gegen mehr als 4.000 Polizist*innen erledigen. Das Dunkelfeld hingegen ist mindestens fünf Mal so groß. In nur 6% der Fälle wird überhaupt Anklage erhoben, 86% der Fälle werden eingestellt und die restlichen 8% wissen gar nicht, wie das Ermittlungsverfahren ausgegangen ist.[1]
Ich würdige ausdrücklich, dass jetzt das Anklageverfahren überhaupt geführt wird. Wem aber glauben die meisten Richterinnen und Richter, wenn es um die Polizei geht. Der Polizei selbst. Warum ist das so? Sind sich Polizei und Justiz dermaßen nahe? Ich bitte Sie, seien Sie uns nahe, den Bürgerinnen und Bürgern, meiner Familie, den Geschädigten.
Polizisten bekommen umgehend das Angebot therapeutischer Betreuung. Was ist aber mit uns? Ich habe monatelang auf einen Therapieplatz warten müssen. Hat uns jemand gefragt, wie es uns geht? Wo sind die Hilfen, wenn wir die Wohnung des Bruders ausräumen müssen, die Beerdigungskosten tragen, die Einkommenseinbußen überleben müssen? Ich erfahre davon, dass einer der Angeklagten Schmerzensgeld erhielt, weil er Hass und Feindschaft aus dem Netz erntete, für das, was er tat. Wo ist an uns gedacht? Keiner hat uns gefragt, wie es uns geht und ob wir Hilfe benötigen. Das ist schlicht nicht vorgesehen, schon gar nicht durch die Verursacher. Sie sind absolut ohne Reue. Man kann den Eindruck gewinnen, sie treten eher triumphierend auf.
Von Seiten der Polizei und von Seiten der Landesregierung hat sich bei uns niemand entschuldigt. Niemand übernimmt die Verantwortung für das, was geschehen ist. Wie kann das sein? Das bürdet uns eine zweite Last auf – die nach der Tat. Eine Last, die den Heilungsprozess beeinträchtigt, die es uns noch schwerer macht, weiterzuleben.
Ich dachte, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren führt, weil den Geschädigten Gerechtigkeit widerfahren soll und nicht um möglichst die mutmaßlichen Täter zu rehabilitieren. Ich habe kein Vertrauen mehr in die Polizei und in den Rechtsstaat. Sorgen Sie dafür, dass Polizisten nicht wieder so handeln können. Das Strafmaß kann ohnehin der Schwere der Tat kaum angemessen entsprechen. Mein Bruder kommt nicht mehr zu uns zurück. Aber sorgen Sie dafür, dass Täter entsprechend bestraft werden und wir als Bürger nicht erneut solchen Leuten im Amt ausgesetzt sind. Das ist es, was ich mir von diesem Gericht wünsche. Ich möchte eine gerechte Verurteilung, damit dies keiner weiteren Familie widerfährt.
[1]: Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen" (KviAPol). 2. Auflage, 26.10.2020, Lehrstuhl für Kriminologie (Prof. Dr. Singelnstein) Ruhr-Universität